Oliver Twist – Klassenspiel mit happy end
von Oliver Schneider
Acht Jahre nach Charles Dickens´ Weihnachtsgeschichte um den am Ende zum Guten bekehrten Scrooge versetzt wieder eine achte Klasse von Herbert Göller das Publikum im gelben Saal der Freien Waldorfschule Wahlwies in den finsteren Teil des britischen neunzehnten Jahrhunderts. Wieder wird ein Text von Charles Dickens auf die Bühne gebracht – diesmal sein bekanntester: „Oliver Twist“. Ohne den Kapitalismus als Ursache für die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten genauer zu untersuchen oder wenigstens zu benennen (so wie es Karl Marx, dessen zweihundertsten Geburtstag wir in diesen Tagen feiern, wenige Jahre später in Oliver Twists London im Angesicht der unsäglichen Verhältnisse im Proletariat getan hat), erzählt Dickens in seinem Roman auf melodramatische Weise das durchaus typische Schicksal eines armen Waisenjungen. Die Schülerinnen und Schüler zeigen auf der Bühne einen augenfälligen Aspekt der sozialen Frage: Das Nebeneinanderherleben von Armen und Reichen in der gleichen Stadt, aber eigentlich auf verschiedenen Planeten. In diesem Punkt hat London bis heute wenig Fortschritte gemacht. Das Bühnenbild setzt dies kongenial um, wenn der Salon von Mr. Brownlow und die düstere Stube von Fagins Räuberbande nebeneinander stehen, aber mit Hilfe des sehr stimmungsvollen betongrauen Vorhangs immer nur jeweils ein Teil Londons gezeigt wird. Die beiden Gesellschaftsschichten begegnen sich eigentlich nur im Moment des Verbrechens. Dadurch wird „Oliver Twist“ zu einem Klassen-Spiel im doppelten Wortsinn, da in dem Schauspiel das Nebeneinander der strikt separierten Klassen dargestellt wird – so wie im Roman. Die soziale Frage wird in Dickens´ Geschichte bestenfalls illustriert, aber eigentlich nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet. Der Text von Claudius Hoffmann zeigt in mancher bitteren Pointe die Verachtung Bedürftiger, so etwa im Gespräch zwischen dem Sarghändler und Mr. Bumble über die für Unterernährte genügenden Sarggrößen oder wenn Mr. Bumble, eine Art Sozialarbeiter-Karikatur, zur Armenhausleiterin Mrs. Corney sagt: „Den ganzen Tag bin ich schon unterwegs. Drei Todesfälle hat es heute in der Gemeinde gegeben. Bei diesem Wetter sterben die Armen wie die Fliegen, und ich habe den Ärger.“ Für den wirklich vom Schicksal gebeutelten Armenhäusler Oliver Twist, dessen tragische Einsamkeit David Grundmann und Mats Kiener herzzerreißend darstellen, gibt es ein happy end, aber Charles Dickens hat hierfür den Zufall so arg strapaziert, dass Olivers Schicksal eben doch ein individuelles bleibt und nicht als Blaupause zur Lösung der Probleme seiner Klasse taugt. Am Ende stellt sich außerdem heraus, dass er eigentlich auch gar nicht der Unterschicht angehört, sondern nur in die Welt der Reichen zurückkehrt. Die Frage ist also, was die Achtklässler und ihr Publikum daraus lernen sollen. Vielleicht dies: „Klassengrenzen sind nicht überwindbar, du wirst nur zu den Reichen gehören, wenn du eigentlich eh schon dazugehörst, also streng dich gar nicht an und komm bloß nicht auf den Gedanken, die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu wollen!“ Ohnehin bleiben die meisten Figuren wie in der Romanvorlage zwangsläufig recht eindimensional und klischeehaft – wie der gewalttätige Räuber Bill Sikes (sehr überzeugend sowohl Liam Rist als auch Benjamin Saxer) oder der grundgütige und etwas naive Mr. Brownlow (starke Präsenz von Luan Class und Gabriel Schmid). Wunderbar komisch sind auch alle Vertreter des Staates von den Polizisten über den Richter bis zum selbstgefälligen Mr. Bumble. Nur wenige – wie zum Beispiel Nancy (brillant: Chiara Künstner) oder auch Mrs. Maylie (Kaja Eisert und Erika Wochner) – machen im Laufe der Geschichte eine Entwicklung durch. Erschreckend ist die mit billigen antisemitischen Klischees arbeitende Darstellung von Mr. Fagin. Zwar entspricht sie damit Dickens´ Roman, aber der ist gerade in diesem Punkt zu Recht umstritten. Selbst Hollywood ist da inzwischen weiter und zeigt in neueren Verfilmungen nicht mehr das Zerrbild des jüdischen Gauners. Bei dem komödiantischen Talent von Nahid Grundler und vor allem Maida Greer hätte es sicher auch andere Möglichkeiten gegeben, die Figur negativ zu zeichnen. In der Stuttgarter Erklärung von 2007 heißt es: „Die […] Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken. Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrerausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet.“ Indem sie den historisch erklärbaren Antisemitismus von Charles Dickens unreflektiert übernimmt, hat die Freie Waldorfschule Wahlwies die Gelegenheit versäumt, zu zeigen, was das in der Praxis heißen könnte. Dem kraftvollen Spiel der Achtklässler sieht man an, dass sie sich mit der Problematik nicht beschäftigt haben, sondern einfach voll und ganz in die Welt von Dickens eintauchen und die verschiedenen Typen darstellen. Mit einer flotten und spannenden Geschichte und gut getakteten kurzen Umbauten kommt nie Langeweile im Publikum auf. Hinzu kommen das durchdachte Bühnenbild, die realistischen Kostüme und vor allem die von Anne-Eve Martin-Hoffmann komponierte und einstudierte Musik, die von der gelungenen Ouvertüre an immer wieder für Glanzlichter in der traurigen Geschichte mit dem überraschenden happy end sorgt. So hat das Publikum vier kurzweilige Abende gehabt – mit Lachen und Weinen, wie es sich für eine gute Theateraufführung gehört.